Prof. Dr. R. Alexander Lorz, Hessischer Kultusminister

„Reibungslos, zügig und geordnet“

Kultusminister Prof. Dr. R. Alexander Lorz beantwortet die wichtigsten Fragen zur Eingliederung der geflohenen Kinder und Jugendlichen aus der Ukraine in den Schulen.

Seit drei Monaten befindet sich die Ukraine nach dem Überfall Russlands im Krieg. Wie läuft bei uns die Hilfe und schulische Eingliederung der geflüchteten Kinder und Jugendlichen?

Lorz: Ich bin wirklich sehr beeindruckt davon, welche Herausforderungen in Schule und Schulverwaltung in den vergangenen Wochen bewältigt wurden. Wir haben in Hessen seit Kriegsbeginn in der Ukraine mehr als 10.000 ukrainische Kinder und Jugendliche in unsere Intensiv-Sprachfördermaßnahmen aufgenommen. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass aktuell bereits über 17.000 sogenannte Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger ohne Deutschkenntnisse auch aus anderen Nationen und Konfliktregionen unsere Intensivklassen und Intensivkurse zum Deutschlernen besuchen. Das heißt, wir beschulen derzeit mehr als 27.500 Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger allein nur in diesen beiden Deutschfördermaßnahmen.

Niemals zuvor wurden in Hessen in so kurzer Zeit so viele Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger in unsere Schulen aufgenommen. Und niemals zuvor haben wir innerhalb weniger Wochen so viele neue Intensivklassen eingerichtet und häufig noch eine Teilintegration in eine Regelklasse ermöglicht. Dass dies in unserem Land so reibungslos, zügig und geordnet geschehen konnte, verdanken wir der Tatsache, dass wir mit unserem langjährig erprobten und sich auch in Krisenzeiten bewährten schulischen Gesamtsprachförderkonzept bereits Strukturen geschaffen haben, mit deren Hilfe und dem Engagement aller an Schule Beteiligten wir auch diese Herausforderung meistern können.

Um für einen noch größeren und nicht vorhersehbaren weiteren Zustrom von Schutzsuchenden gerüstet zu sein, haben wir unter anderem über die bestehenden Regelungen hinaus vorsorglich die Möglichkeit eröffnet, in der Sekundarstufe I in den Intensivklassen statt 16 im Bedarfsfall auch bis zu drei Schülerinnen und Schüler mehr aufzunehmen.

Wie funktioniert die Zusammenarbeit der verschiedenen Stellen?

Ein strukturell und inhaltlich gutes Konzept ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite betrifft das Engagement und den unermüdlichen Einsatz aller, die an diesem Prozess beteiligt sind. An vorderster Stelle möchte ich hier die Schulleiterinnen und Schulleiter und die Lehrkräfte in den Schulen vor Ort nennen. Das betrifft nicht nur den Unterricht. Es geht einem geradezu das Herz auf, wenn man mitbekommt, mit welch einer Zugewandtheit und Offenheit die ukrainischen Kinder und Jugendlichen empfangen werden. Zum Teil werden Patenschaften gebildet, und jeder ist bereit mitzuhelfen und den Ankommenden das Gefühl zu geben, hier wieder in Sicherheit zu sein. Es sind hier aber auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Staatlichen Schulämtern, im Bereich der Schulträger und nicht zuletzt im Kultusministerium zu nennen, die Außerordentliches leisten.

Ich bin froh, dass wir in der Hessischen Landesregierung die notwendigen finanziellen Mittel für diesen zusätzlichen Bedarf an Personal und Sachmitteln im schulischen Bereich für alle notwendigen Maßnahmen zur Bewältigung dieser enormen Herausforderung bereitstellen konnten.

Worauf kommt es bei der Unterstützung besonders an? Und warum ist es Ihnen so wichtig, dass die Kinder auch von Anfang an Deutsch lernen?

Bei unserem schulischen Gesamtsprachförderkonzept geht es im Schwerpunkt um das systematische Erlernen der Bildungssprache Deutsch, um hierzulande schulisch erfolgreich zu sein. Doch geht es – gerade bei traumatisierten Kriegsflüchtlingen – auch um emotionale Sicherheit und das Gefühl, bei uns willkommen zu sein. Deshalb sind unsere Expertinnen und Experten im Bereich der Schulpsychologie in den gesamten Prozess eingebunden. Das alles betrifft nicht nur die ukrainischen, sondern auch alle anderen Kinder und Jugendlichen in ähnlicher Lage – denken wir an die vielen Flüchtlinge zuletzt aus Afghanistan. Und es betrifft auch die Kinder, die hier behütet in Deutschland aufgewachsen sind und verunsichert sind. Sie alle brauchen unsere Unterstützung und unsere Zuwendung.

Um sich in einer kleinen Gemeinde oder in der Stadt zurechtfinden und sich zumindest ein wenig heimisch fühlen zu können, bedarf es der deutschen Sprachkenntnisse – auch wenn ein Aufenthalt nicht auf Dauer sein sollte. Darüber besteht im Übrigen bundesweit Konsens.

Weil wir heute nicht sicher wissen können, wie lange die zu uns Geflüchteten bleiben werden, muss von Anfang an die Zeit genutzt werden, unsere Sprache zu lernen, um mit ausreichenden Deutschkenntnissen möglichst schnell in eine Regelklasse wechseln und später auch noch einen Schulabschluss erreichen zu können. Deshalb sind die Intensivklassen so wichtig, in denen ein Bildungsgang noch nicht festgelegt ist, sondern erst abgewartet wird, wie sich der Schüler oder die Schülerin entwickelt.

Welche Wirkung hat das Sprachförderkonzept auf den Bildungserfolg?

Seitdem wir in Hessen im Schuljahr 2002/2003 Vorlaufkurse zum Deutschlernen noch vor der Einschulung eingeführt und im Schuljahr 2006/2007 Intensivklassen und Intensivkurse hessenweit eingerichtet haben, steht Hessen beim Bildungserfolg von Migrantinnen und Migranten nicht mehr wie in den 1990er Jahren im Ländervergleich auf den hintersten Rängen der ausländischen Schülerinnen und Schüler ohne Abschluss, sondern seit einigen Jahren immer ganz vorn mit der geringsten Quote der Schülerinnen und Schüler ohne Abschluss. Wir haben uns aber nie auf dieser positiven Bilanz ausgeruht, sondern haben unser Konzept in den vergangenen Jahren stetig verfeinert. So bieten wir ein etappenübergreifendes schulisches Gesamtsprachförderkonzept an, das von den Vorlaufkursen im Jahr vor der Einschulung über die Deutschförderkurse und Intensivmaßnahmen in den allgemein bildenden und beruflichen Schulen bis zur Deutschförderung in der dualen Ausbildung reicht.

Welche Möglichkeiten erhalten die Kinder und Jugendlichen aus der Ukraine, um zudem noch in ihrer Muttersprache zu lernen?

Natürlich wollen die meisten der bei uns Schutzsuchenden aus der Ukraine verständlicherweise so schnell wie möglich wieder in ihre Heimat zurückkehren. Das betonen sie immer wieder. Und die Eltern und die in der Ukraine politisch Verantwortlichen fürchten, die Kinder und Jugendlichen könnten den Anschluss an ihre Schule zu Hause verlieren. Diese Befürchtung wurde in den überaus konstruktiven Gesprächen, die ich mit dem ukrainischen Generalkonsul geführt habe, sehr deutlich.

Als Sofortmaßnahme haben wir deshalb den kurz vor ihrem Abschluss stehenden Schülerinnen und Schülern ermöglicht, bis zum Ende des ukrainischen Schuljahrs Ende Mai/Anfang Juni 2022 weiterhin an dem von ukrainischer Seite angebotenen Online-Unterricht teilzunehmen, auch wenn dieser teilweise parallel zu unserem Schulangebot stattfindet.

Doch wir wollen auch allen schutzsuchenden Kindern und Jugendlichen den Wiederanschluss an ihre heimische Schule ermöglichen. Hierfür haben wir seit wenigen Wochen das freiwillige Unterrichtsangebot Sprach- und Kulturvermittlung in ukrainischer Sprache eingerichtet, das zum größten Teil von selbst bei uns schutzsuchenden ukrainischen Lehrkräften erteilt wird. In diesem Unterricht, der nicht gleichzusetzen ist mit einem herkömmlichen Herkunftssprachenunterricht, werden unterschiedliche Lerninhalte verschiedener Fächer angesprochen, und es können die digital vorhandenen offiziellen Lehrwerke aus der Ukraine zur Unterstützung herangezogen werden.

Das alles wird zusammen genommen dazu beitragen, dass den Kindern und Jugendlichen eine Brücke gebaut wird, um bei einer Rückkehr in die Ukraine ihre Schulbildung möglichst erfolgreich fortsetzen zu können.

Bleiben Sie auch für das nächste Schuljahr so zuversichtlich?

Auch ich kann aktuell noch nicht sicher abschätzen, wie viele schutzsuchende Kinder und Jugendliche aus der Ukraine und aus Kriegsgebieten noch in unser Land kommen werden. Aber wir sind mit unseren bewährten Konzepten so gut wie möglich aufgestellt.

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